Zum Nachdenken


Das Münchner Missbrauchsgutachten schlägt hohe Wellen. Viele Menschen sind von ihrer Kirche enttäuscht und erklären ihren Kirchenaustritt oder denken ernsthaft darüber nach. Nicht wenige Gläubige engagieren sich in der Kirche vor Ort und sehen sich dafür in einem Rechtfertigungszwang. Am Arbeitsplatz und im Freundeskreis werden sie mit unangenehmen Fragen konfrontiert und müssen erklären, warum sie noch etwas für diese Kirche tun. Dazu ein paar Überlegungen.

Die Fälle von sexuellem Missbrauch sind eine Schande und beim Umgang damit wurden schwere Fehler gemacht. Aber: Besteht die Kirche nur aus Bischöfen und Generalvikaren, die nicht wissen, wie man mit solchen Verbrechen umgeht? Hat die Kirche nicht mehr zu bieten? Schafft wirklich nur ein Kirchenaustritt die Distanz zu einer „Verbrecherorganisation“, für die man sich schämen muss?

Vielen kirchenverbundenen Gläubigen fällt es dennoch schwer, Abschied von der Kirche zu nehmen, weil sie spüren, dass Kirche mehr bedeutet. Kirche kann zur Heimat werden. Viele haben positive Erinnerungen an Kirche in ihrer Kindheit und Jugend, seien es Feste wie Erstkommunion und Firmung, sei es die Zeit bei den Ministranten oder in kirchlichen Vereinen. Sie erleben Kirche als einen Raum, in dem der Glaube gelebt wird und man sich gegenseitig im Glauben stützt. Kirche schafft Gemeinschaft und prägt Menschen und Kulturen.

Daneben hat Kirche auch einen reichen spirituellen Schatz, den viele Menschen als etwas Tragendes in ihrem Leben wahrnehmen. Im Religionsunterricht, in Katechese und Verkündigung macht sie Menschen mit Jesus Christus bekannt und vermittelt christliche Werte, die das Zusammenleben positiv gestalten. Kirche bietet Hilfe, ein erfülltes Leben mit Gott zu führen. Gebet und Sakramente stärken den Glauben und ermöglichen eine Gottesbegegnung. Die lebendige Gottesbeziehung setzt Kräfte frei, die mich mit Freude und Zufriedenheit erfüllen und mich gerade in Krisen und schweren Lebensabschnitten tragen. Sie lässt mich Schweres leichter ertragen, schenkt Gelassenheit in den Stürmen des Lebens und gibt mir Orientierung und Halt im Leben.

Kirche bewirkt oftmals im Stillen viel Gutes. Für Frauen im Schwangerschaftskonflikt, für schwierige Familiensituationen, Überschuldung oder Suchtprobleme bietet Kirche kostenfreie Beratungsangebote und Hilfen an. Wie viele Familien und Menschenleben haben dadurch eine zweite Chance erhalten und konnten so gerettet werden.

Wie sollen diese wertvollen Dienste und Hilfen möglich sein, wenn viele die Kirche verlassen und ihre Aktivitäten nicht mehr unterstützen? Wie soll ich von den spirituellen Schätzen profitieren, wenn ich zur Kirche auf Distanz gehe? Wie viele positive Erfahrungen und Erlebnisse entgehen mir, wenn ich mich von allem, was mit Kirche zu tun hat, fernhalte?...

Vielleicht ist ein Kirchenaustritt doch nicht die ideale Lösung. Es könnte sich lohnen, der Kirche bei ihrer Erneuerung zu helfen und die positiven Seiten zu stärken.


Im Feb. 2022 Kaplan Dr. Peter Stier